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Literaturwerkstatt 2015

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Oyuncu- der Spieler

Noch in der Luft durchzuckte der erste Lichtstrahl die tiefblaue Glasmurmel und enthüllte ihre innere fast farblose Muschelspirale, die in ihrer Drehbewegung schien, als würde sie in den tiefblauen Ozean beruhigende unaufhörliche Wellen schlagen. Noch zuvor von der Dunkelheit verborgen durchritt sie die Luft.

Oyuncu hört das dumpfe Aufkommen und helle Klirren von Glas auf Glas, ähnlich dem Klang von Gläsern wie sie beim Anstoßen klingen. Für einen Moment fühlte er sich wieder in den vorigen Abend versetzt, wie er mit seinen Eltern in der einzigen, aber dafür rauchigen Kneipe seines Ortes dasaß und unter dem Gewubbe der Banditen mit seinen Freunden energisch über die neusten Murmeln stritt.

Seine Kugel lag außerhalb des Lichtkegels der Straßenlaterne, die gerade erst angegangen war, doch Oyuncu war sich bereits sicher, seine Kugel war wieder einmal besser positioniert als die seines Freundes. Er war der beste Murmelspieler seiner ganzen Schule und immer, wenn sie sich abends trafen, um im künstlichen Licht der flackernden Laternen zu spielen und die Murmeln weite Schatten warfen, wie sie so aus den Kinderhänden glitten und in den Kuhlen aufeinandertrafen, spürte Oyuncu nur den Adrenalinrausch mit dem klirrenden Aufkommen der Kugel .

Und wenn die Mütter so riefen und er über den Schulhof nach Hause schlurfte, da fühlte sich Oyuncu unglaublich reich und mächtig, denn er ging an keinem vorbei, den er nicht schon abgezogen hatte, der ihm nicht wenigstens ein paar Murmeln oder sogar Geld und Münzen schuldete.

Es gab nur einen Jungen, einen Freund, dem er wegen der Schulden nie Druck machte, weil der eine Schwester hatte, die Oyuncu hübsch fand. Er wollte sie heiraten, sie kannten sich und sie mochten sich auch.

An diesem Abend ging Oyuncu aber nicht nach Hause, seine Eltern waren wieder einmal aus und er wollte die freie Zeit nutzen, um eben diesen Freund zu besuchen. Die Eltern seine Freundes begrüßten ihn erfreut und so ging er ein Stockwerk hoch zum Zimmer seines Freundes und als er, wie so oft schon, merkte, es war verschlossen, so klopfte er und während er wartete, sah er durch einen Spalt ins Nachbarzimmer, dort saß Aisha vor ihrem Spiegel, ihr volles gelocktes Haar umspielte ihr wunderschönes Gesicht, dominiert von ihren großen, tiefen Augen.

Und Oyuncu merkte in seiner ihn völlig überkommenden Bewunderung nicht, dass sie ihn ebenso ansah. Sie bat ihn in ihr Zimmer und wie sie nebeneinander auf ihrem Bett saßen, da merkten sie, dass sie das erste Mal miteinander alleine waren und sie gestanden sich in Flüstertönen ihre Liebe. Der Sommer begann und so ihre Liebe mit ihm. Das exzessive Murmelspielen wich scheinbar endlosen Nächten im gefleckten Schatten der Bäume an der ruhigen tiefblauen Küste, jede Bewegung spiegelte sich auf der sich langsam wiegenden Wasseroberfläche und ihre Spiegelbilder verschwommen ineinander. Wie die Schatten wieder länger wurden und die Tage kürzer, so schien es, neigte sich auch ihre scheinbar unendliche Nähe dem Ende entgegen. Während Aisha die winterlichen Tage weiter an der türkischen Küste verweilte, zog das Leben Oyuncu nach Deutschland. Für immer.

Ohne Aisha begann das Leben in Deutschland für Oyuncu ernüchternd. Er rang lange mit sich, dem Murmelspiel wieder Zuwendung zu schenken, er musste sich eingestehen, dass ihn das Murmeln beherrscht hatte, keineswegs eine Sucht, vielmehr ein einfacher Drang. Dieser einfache Drang, der in den Tagen nach seiner Ankunft immer mehr wuchs und von keiner Liebe überschattet wurde, begann ihn bald wieder zu beherrschen und er ging nun auch los, die Murmelspieler aufzufinden. Des Morgens, dem Drang erlegen, erhellte ihm der Tag einen Brief aus der fernen Heimat. Dem Schreiben seiner Tante entnahm er, Aisha dachte wohl noch immer an ihn, auch lag ein Gedicht von ihr anbei, er nahm sich fest vor, des Mittags gleich zu antworten. Doch diese freudige Kunde bedeckt seinen Drang des Emporkommens keineswegs. Mit sicheren Schritten betrat er dann des Abends eine Kneipe, das Auge stets geschärft für die Murmelspieler dieses Landes. Der Unauffindbarkeit der Murmelspieler und des letzten Bieres überdrüssig, versunken in Erinnerungen an seine Kindheit in der Türkei, fiel ihm auf, es hält ihn nichts an diesem Ort, er war so kalt, so anders als die Heimat. Doch da, da hörte er es doch sehr wohl, es war ein Wubb und da noch einmal, es klang nach Klirren, nach Murmelklirren aus der Kindheit und da er sich so umdrehte, da ward ihm klar. Es war der Klang aus seiner Kindheit, doch keineswegs war es das Murmeln, es war das Gewubbe der Banditen, in seiner Kindheit stets präsent.

-Hätte ein Freund neben ihm gesessen, er hätte ihn gewiss abgehalten, aber da dieser Bandit Oyuncu doch als einziges an seine Heimat erinnerte und an dem Begriff Heimat hing für ihn so viel: Liebe, Geborgenheit, Freunde und das Adrenalin der Murmeln setzte er sich, wohlgemerkt mit Vorsicht, vor den Slot.-

Die Maschine blinkte ihn an und er starrte in die Lichter. Zwei Anzeigen, auf der oberen drehen sich die fünf Rädchen, auf der unteren drei Knöpfe: Start, Stopp, Automatik. Wubbwubbwubbwubbwubb, ein warmes Geräusch, kein Klickern, kein Fiepen, beruhigendes Blubbern. Symbole leuchteten auf und tauchen das Gesicht des Spielers in wechselnde Farben. Er gewann. Noch einmal drückte er auf den Startknopf und schließlich noch ein drittes Mal, das Adrenalin schnellte mit der Höhe des Einsatzes ins Unermessliche. Das Leuchtschild sagte: „The Sky is the limit“. Es wurde spät, sollte er nach Hause gehen, er schaute in seine Geldbörse, gefüllt mit den gleichen, aber nicht denselben 50 Euro wie zu Beginn des Abends. Er drückte weiter auf den Startknopf, immer schneller und spielte ein bisschen mit der Automatik, die viel Adrenalin und noch mehr, Verlust für ihn bedeutete. Der Gewinn war am Ende der Nacht oder man musste vielmehr sagen am Anfang des Tages noch da und der Spieler, nur noch ein Schatten seiner selbst, ging nach Hause. Es vergingen Nächte, bis eines frühen Morgens, der Spieler hatte wieder einmal lange gespielt, mit dem ersten Morgenlicht auf dem Heimweg sich wieder Leben in ihm regte, ihm wurde klar, dass an Aisha noch eine Antwort ausstand. Zu Hause angekommen, überflog er ihren Brief noch einmal. Der Brief begann mit „Lieber Oyuncu“ O-O-Oyuncu? Der Spieler begann zu schreiben:

Liebe Aisha,

Ich schreibe dir geschwind

Doch es ist nicht der Wind

Das bin doch eben ich

Der sagt, man denkt an dich

Reich lieber deinen Arm

Du hast ja grad nur einen

Ich bin nicht gerade lahm

schnell her mit allen Scheinen

Bin nicht mehr lange fort

warte ruhig auf mich dort

Es wird sicher ein Brillant

Ein Geschenk aus Deutschland

Noch am selbigen Morgen schickte er den Brief auf die weite Reise, zurück in seine Heimat. Er fühlte sich wie ausgewechselt, mehr wieder wie Oyuncu, als wäre er zuvor nicht er selbst gewesen, doch dieses Gespinst schob er mit allem Unnütz beiseite, es gab jetzt nur noch eins, Aisha und das Ziel, zu ihr zurück in seine Heimat zu kommen. Sicher ihm war klar, dass er in Deutschland schon fest Wurzeln geschlagen hatte, der eine Halunke hie, der andere Lump da.

Doch würde er das alles sicher aufgeben. Des Abends ging er nicht mehr aus, er siedelte sich ein, seine Spitzbuben wunderten sich sicherlich, wo er steckte, doch er dachte nur daran Briefe und Gedichte für seine Aisha zu schreiben und wartete stets sehnsüchtig auf ihre Antworten.

Er konnte sein Glück kaum fassen, eines Tages kam ein Brief aus der Heimat, jedoch nicht von Aisha. Es war seine Tante, die ihm schrieb. Doch bevor er ihn öffnete und er war wirklich gespannt, was sie zu berichten hatte, sie hatten sich lange nicht mehr gesehen, nur wusste er auf Anhieb nicht mehr wie lange, es war auf jeden Fall eine lange Zeit, schaffte er sich an diesem Abend eine Abwechslung und ging in seine alte Stammkneipe zu seiner Gaunerbande. Er war verblüfft, sie standen immer noch in Reih und Glied und warteten nur auf ihn, er hatte wirklich Wurzeln geschlagen in Deutschland. Doch widerstand er zunächst dem sofortigen Verlangen sich an einen von ihnen zu setzten und begab sich an die Bar, holte den Brief seiner Tante aus seiner Jackentasche, öffnete ihn und legte das leere Kuvert neben sein Bier. Bereits auf den ersten Blick sah er, dass sie über Aisha schrieb und da wurde Oyuncu ganz warm ums Herz, das erste Mal seit langem wieder. Er begann zu lesen. Ein ausländischer Soldat habe Aisha aufs Feld gezogen und vergewaltigt. Aishas Vater habe die beiden zur Hochzeit gezwungen. Aisha: weg. All das waren nur leere Worte für ihn, er verstand sie nicht, was hatte das zu bedeuten, was war mit seiner Aisha, was war mit seinem Anker im Ozean, tiefblau- geschlagen? Der Anker, der ihn doch nach Hause bringen sollte, zurück in die Heimat. Er spürte in sich die Stimme, die immer lauter wurde, zuvor noch übertönt vom tiefblauen Ozean, in dem sein Anker der Liebe sich jetzt gelichtet hatte und aus dessen beruhigenden Wellen nun vielmehr tosendes Wellenschlagen ertönte, als wären sie die Stimme selbst, die ihn hinauszog und hinein zugleich, die Stimme, die ihn bei seinen Banditen Ruhe finden ließ. So zog es ihn zu dem Banditen, an dem er auch sein erstes Spiel angefangen hatte, auf seinen Rädchen hatte er Brillanten, Kirschen und eine Zahl.

Die ersten Sonnenstrahlen schienen schon wieder auf den Spieler. Er hatte auf Automatik gestellt. Er machte nichts, er saß, er starrte. Zehn Euro, 9,60; 9,20; 8,80. Es ging schnell, nach ein paar Minuten waren die zehn Euro weg.

„5 Euro noch“, sagte er und steckte einen 20er hinein.

-Ich habe ihn wieder getroffen, vor gar nicht allzu langer Zeit und er sagte mir, er könne die Automaten nicht mehr ausstehen. Er bestellte uns zwei Tee. „Das Leben“ , sagte er , „verlangt Perfektion. Jeder Fehler kostet Zeit und Schmerz“. Er dachte an Aisha, begann zu erzählen, wie er Jahre später, als er durchs Spiel mal reich war, mit dem Cabrio in sein Heimatdorf zurückgekehrt sei, ein Prinz aus dem Märchen. Er habe Aisha abgeholt und sei mit ihr in ein schönes Hotel gefahren und habe noch ein letztes Mal mit ihr geschlafen. „Und weißt du“, sagte er, „dabei ist ein Sohn entstanden. Der ist jetzt Staatsanwalt in der Türkei“. Ob diese Geschichte nun wahr ist oder nur sein Traum, weit weg ist alles auf jeden Fall. Der Spieler blickte aus dem Fenster in die Lichter der Nacht. –

Marc Zenzius (Q2)