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Literaturwerkstatt 2015

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Vaterliebe                                         

Rupert starrte auf die in orange leuchtenden Ziffern und Lettern, die ihm anzeigten, wie viele Stockwerke ihn noch vom Ausgang trennten. Die silbergrauen Metallwände schienen ihm heute noch beengender als sonst.

In seinem Kopf hallte noch das hitzige Gespräch wider, das er gerade mit seinem Chef geführt hatte.

Er hatte seine Entscheidung längst getroffen.

Wütend war er schließlich aus dem Büro gestürmt, der Chef hatte ihm noch die Kündigung hinterher gerufen.

Doch das kümmerte Rupert nicht mehr.

Endlich leuchtete das große »E« auf der Fahrstuhlanzeige auf und die Türen öffneten sich. Erleichtert stürzte er aus dem Fahrstuhl und eilte, seine Aktentasche in der einen, einen grauen Regenschirm in der anderen Hand haltend, zum Ausgang des Gebäudes. Schwerfällig drückte er gegen die große, gläserne Tür und trat hinaus.

Es war ein grauer Herbstabend, kalter Wind wehte die gefallenen Blätter durch die verlassenen Straßen der Stadt. Rupert knöpfte seinen Mantel zu und bog nach links. Es nieselte ein wenig, deshalb öffnete er kurzerhand seinen Regenschirm. Nach einigen Schritten sah er noch einmal zurück auf die großen, leuchtenden Lettern der Firma, die er nun nie wieder betreten müsste.

Auf seinem Weg kam er wie üblich an den schwach beleuchteten Cafés und Bars vorbei. Hier und da roch es nach indischem Essen und Donuts. An einem schönem Sommertag wären die Läden stark gefüllt, Menschenmassen würden sich durch die Straßen drängen, Verkäufer ihre Ware ausrufen. Die Stadt wäre an einem solchen Tag lebendig, doch heute waren die Straßen leer.

Rupert bog in seine Straße und schritt auf die Eingangstür des Plattenbaus zu. Langsam stieg er die Stufen hinauf in den sechsten Stock und schob den Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür. Es klemmte ein wenig, als er den Schlüssel umdrehte, doch nach einem geübten Ziehen und Drücken öffnete sich die Tür und er trat in seine kleine Zweizimmerwohnung ein.

Er stellte seinen Schirm in den Ständer und hing seinen Mantel an den Kleiderhaken. Seine Schuhe streifte er ab und stellte sie in den Schuhschrank, der ebenso als Kommode diente. Auf ihr standen verschiedene Bilderrahmen, die Fotografien von seiner Tochter und seiner Exfrau zeigten. Auch Portraits von seinen Verwandten und Aufnahmen, die ihn mit Freunden zeigten, waren unter ihnen. Es waren Überbleibsel aus einer Zeit, die weit hinter ihm lag.

Lange war es her, dass Rupert etwas mit Freunden unternommen hatte. Sie führten ihre Leben weit fort von ihm. Und zu seiner Familie hatte er schon lange zuvor keinen Kontakt mehr gehabt.

Nachdenklich nahm er eines der Bilder in die Hand, das ihn mit seiner Tochter und seiner Exfrau abbildete. Er fuhr mit dem Daumen über das Gesicht des Mädchens. Vier Jahre war sie alt, als das Foto entstanden war, einige Wochen später war dann der furchtbare Unfall. Sie hatte ihn nicht überlebt. Und er allein war schuld daran. Seine Frau hatte sich danach von ihm abgewandt. Ein halbes Jahr nach dem Unfall ließ sie sich schließlich von ihm scheiden.

Zwölf Jahre war das nun her. Seitdem war er alleine.

Allein sein Job hielt ihn in dieser Zeit am Leben. Doch nun war er es leid geworden, Tag für Tag Akten von der einen auf die andere Seite zu schieben.

Rupert hatte vor, diesen Abend noch einmal zu genießen. Er würde sich ein Glas Rotwein, den er sich für einen besonderen Anlass aufgehoben hatte, einschenken, sich in seinen gemütlichen Lehnsessel setzen und sich einige Episoden seiner Lieblingssendung ansehen. So lief er also in seine kleine Küche, nahm sich aus einem der Schränke ein Weinglas, klemmte sich die Flasche Rotwein unter den Arm und ging damit ins Wohnzimmer.

Einige Stunden vergingen, ehe Rupert den Fernseher ausschaltete und sich müde aus seinem Sessel erhob.

Es war Zeit.

Er schritt den Flur entlang auf sein Schlafzimmer zu. Als er die Tür öffnete, schaute er auf sein Bett und ließ den Blick durch den Raum gleiten, bis sein Blick auf das Seil fiel, das vor ihm von der Decke baumelte und dessen Ende zu einer Schlaufe gebunden war. Es war gerade so angebracht, dass Rupert problemlos vom Bett aus danach greifen konnte. Er lief auf das Fenster zu, unter dem sein Kanapee stand. Darauf lag sein Nachthemd, welches er, nachdem er seine Klamotten abgestreift hatte, überzog.

Langsam schritt er durch das Zimmer zu seinem Nachttisch und griff sich einen der Bilderrahmen, in dem ein Foto seiner Tochter zu sehen war. Er betrachtete es eine Zeit lang. „Ich komme zu dir Prinzessin“, flüsterte er.

Entschlossen stieg Rupert auf das Bett und griff nach dem vor ihm pendelnden Seil. Vorsichtig führte er die Schlinge über seinen Kopf und ließ sie auf seine Schultern fallen. Einen kurzen Moment zögerte er, doch schließlich machte er den Schritt ins Leere – und fiel.

Er fiel nicht tief. Seine Füße baumelten gut 40 Zentimeter über dem Boden. Die Schlinge schnürte ihm den Hals ab und drückte ihm auf den Kehlkopf. Rupert spürte, wie durch den Druck Äderchen in Nase und Augen platzten und schloss die Augen.

Allmählich verlor er das Bewusstsein. Das letzte, an das Rupert dachte, war das Gesicht seiner Tochter. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht, ehe sein Körper schließlich erschlaffte.

Leonie Merten (Q2)