Ein falscher Schritt
Geduckt schlich ich mich vorwärts. Wir durften nicht entdeckt werden, sonst wäre alles vorbei. „Wir müssen weiter nach rechts, sonst sehen sie uns“, flüsterte Karl mir zu. „Nein!“ Ich leitete das Manöver, ich entschied. „Weiter geradeaus!“, gab ich den Befehl. Nur noch ein paar Meter und wir wären in Position. Plötzlich ein Knall. „Sie haben uns gesehen! In Deckung!“ Trotz der Angst, die meinen Körper durchflutete, musste ich einen kühlen Kopf bewahren. „Anlegen und Schießen!“ In schnellen Salven verschoss ich mein ganzes Magazin. In Deckung, nachladen und schießen. Ich funktionierte, sperrte meine Panik zurück. Meine kurze Ausbildung hatte sich gelohnt. Die feindliche Einheit zog sich zurück. Doch meine Freude darüber wurde zu purem Entsetzen. Ich hatte drei Männer verloren. Direkt neben mir lag er, blutüberströmt, mein bester Freund.
Schreiend schreckte ich hoch. Wo war ich? „Guten Morgen Herr Pützler, Zeit zum Aufstehen.“
Ich musste wohl wieder davon geträumt haben. „Morgen“, grummelte ich meinem Pfleger Jan zu. Er hatte sich schon längst an meine Albträume gewöhnt. Widerstandslos ließ ich mir beim Waschen helfen. Zu sehr war ich noch von meinem Traum eingenommen. Ich hatte die Kontrolle verloren, die Deckung verlassen und das Leben meiner Einheit riskiert. Es war meine Schuld, dass drei von ihnen gestorben waren. Ich erinnere mich noch genau an sie. Ferdinand und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Robert. Ihre Mutter brach zusammen, als man ihr die Nachricht überbrachte. Und Karl. Wir kannten uns seit dem Kindergarten. Ich bin schuld, dass er gestorben ist. Ich darf die Kontrolle nicht wieder verlieren! „Herr Pützler!“, Jan riss mich aus meinen Gedanken. „Sie haben mir schon wieder nicht zugehört! Sie sind auf mich angewiesen, oder können sie selbst einkaufen gehen?“ Der Spott in seiner Stimme war unüberhörbar. Betreten guckte ich auf den Boden. Wie lange war ich schon nicht mehr draußen gewesen? Ich kannte die Antwort genau. Fünf Jahre und 73 Tage. Ich hatte akribisch gezählt. Ich hatte ihn damals besucht und auf dem Rückweg einen Schlaganfall erlitten. Die Ärzte meinten zwar, dass es nur ein leichter gewesen sei, aber ich konnte da draußen keinen völligen Kontrollverlust riskieren. Überall waren Gefahren. Auch wenn der Krieg seit 70 Jahren vorbei war, hörte man doch immer wieder von Terroranschlägen und Mördern. Die Welt da draußen war gefährlich! Nur ein falscher Schritt...
Wir waren am Tisch angekommen. Jan hatte schon wieder Frühstück gemacht und wollte mich füttern. Er wollte mir die Kontrolle nehmen. „Ich kann das alleine“, schnell griff ich nach dem Teller mit dem Wurstbrot. Zu schnell. Meine zittrige Hand konnte den Teller nicht halten und er zerbrach scheppernd auf den Fliesen. „Wie kann man nur so stur und ungeschickt sein!“ , schrie Jan und erhob die Hand. Ich war zu perplex, um auszuweichen. Die Erkenntnis traf mich härter als der Schlag. Ich bin hier nicht sicher! Ich habe die Kontrolle nicht mehr.
Erst als der Wind an meiner Kleidung zerrte, merkte ich, dass ich rausgelaufen war. Voller Panik rannte ich weiter. Wohin sollte ich? Nirgendwo war ich sicher! War da jemand hinter dem Baum? Werde ich beobachtet? Mit jedem Schritt wurde ich verzweifelter. Ich merkte nicht mehr, wohin ich lief. Immer weiter, schneller! Wer hätte gedacht, dass ich mit 90 noch so schnell sein kann? Aber Angst holt bekannter weise das Beste aus dem Körper heraus. Jedoch nicht für immer. Erschöpft fiel ich auf die Knie. Mit glasigen Augen sah ich auf. Der Friedhof. Ich musste unbewusst hier her gelaufen sein. Gut drei Kilometer, ohne dass mir etwas passiert war. Niemand hatte mich beachtet. Mit letzter Kraft schleppte ich mich weiter. Zu der Stelle, die ich das letzte Mal vor fünf Jahren und 73 Tagen gesehen hatte, als ich das letzte Mal alleine das Haus verlassen hatte Nur ein falscher Schritt. Ich sank nieder. „Ich werde wieder rausgehen, Karl. Damit du das Leben durch meine Augen sehen kannst.“
Anna Wickenhöfer (Q2)